Ein Glas Wein als Medizin? Was heute eher ungewöhnlich klingt, hat eine sehr lange Tradition. Dazu wird Wein mit Kräutern und Gewürzen versetzt, um eine bestimmte Heilwirkung zu erlangen. Beispielsweise wurden Beifuß, Kalmus, Zimt oder auch unbekanntere Pflanzen wie der Hirschzungenfarn dem Wein für einen verdauungsfördernden Trank zugegeben.
Was können diese Kräuter- bzw. Medizinalweine und macht es in der heutigen Zeit noch Sinn, wo doch jeder zu Recht vor den Gefahren von (zu viel) Alkohol warnt?
Ursprung und Geschichte des Medizinalweins
Bereits im Zweistromland wurde vor ca. 5000 Jahren Weinanbau betrieben. Bei Ausgrabungen im alten Sumer gefundene Tontäfelchen belegen dies und enthalten das älteste erhaltene Rezept für einen Medizinalwein.
Die Ägypter schätzten bereits die Weinrebe, die als Geschenk des Gottes Osiris an die Menschen galt. Sie waren bereits sehr versiert im Anbau und Keltern des Weines. Auf ägyptischen Papyri sind mehrere Rezepte für Heilmittel aus Wein erhalten.
In der Antike beschreiben die beiden griechischen Ärzte Hippokrates und Galen ebenfalls die arzneiliche Zubereitung und Verwendung von Wein. Und auch Galen, der bekannte römische Arzt, sah in ihm ein Lebenselixier.
Bekannte Weine aus der Zeit sind Vinum Hippocraticum, auch Hippokras genannt – mit Wermut, Myrrhe oder Zimt, der als stärkend und verdauungsfördernd galt. Mulsum – ein (Honig)Wein der Römer, der oft mit Heilkräutern versetzt wurde. Er galt als appetitanregend, verdauungsfördernd und war ein Lebenselixier. Er wurde gerne vor den recht üppigen Gelagen als Aperitif gereicht. Und dann ist noch der aus Zypern stammende Commandaria zu nennen, ein Süßwein, der bei Fieber und Schwäche gerne getrunken wurde.

Herstellung und Verkostung des Hippokras im Mittelalter, via Wikipedia
Im Mittelalter war der Einsatz von Wein als Heilmittel ebenfalls üblich. Dies hatte mehrere Gründe.
- Er stand in einer langen Tradition als Heilmittel und verstärkte die Wirkung der zugefügten Kräuter und anderer Zusätze. Üblich waren Kräuter und Gewürze, letztere wurden dann auch (Ge)Würzwein genannt. Der im Wein enthaltene Alkohol ist ein Medizinpferd, d. h., er sorgt für eine schnellere Verfügbarkeit der Inhaltsstoffe im Körper. Gleichzeitig löst er aus den Kräutern sowohl die alkohol- als auch wasserlöslichen Inhaltsstoffe. Dazu gehören etwa ätherische Öle, Flavonoide, Bitterstoffe und Gerbstoffe.
- Der Alkoholgehalt erhöht die Haltbarkeit von Zubereitungen.
- Sauberes Wasser war ein Luxusgut und stand aufgrund der hygienischen Verhältnisse kaum zur Verfügung. Deshalb waren andere Getränke wie Dünnbier oder ein saurer Wein Teil der täglichen Ernährung für alle Altersstufen.
- Über die Klostermedizin und ihre Rezepte wurde die Tradition der Medizinalweine weiter gepflegt. Noch heute kennen wir die von der Äbtissin Hildegard von Bingen überlieferten Zubereitungen, die es heute wieder zu kaufen gibt. Bekannt sind unter anderem der Hirschzungen-Trank, der Herzwein und der Veilchen-Trank.
- Alchemisten schätzten im Mittelalter und der frühen Neuzeit Wein als Mittlersubstanz, die sowohl heilende als auch spirituelle Eigenschaften besaß. Sie nutzten ihn in ihren Experimenten, um dem mystischen Stein der Weisen auf die Spur zu kommen. Bekannt wurde das durch Destillation gewonnene Aqua vitae – einem ursprünglich aus Wein destillierten Lebenswasser. Bekannte Weine der Frühen Neuzeit waren Elixir St. Vincent, ein Medizinalwein mit Eisen gegen Blutarmut, und der ungarische Tokajerwein, der als Stärkungsmittel bei Schwäche und Rekonvaleszenz geschätzt wurde. Lacryma Christi schließlich ist ein nur am Vesuv angebauter Wein, der eine religiös-spirituelle Bedeutung für die christliche Kirche innehatte und zu bestimmten Feierlichkeiten zeremoniell genutzt wurde. Aber ihm wurde auch eine medizinische Wirkung zugeschrieben.
Im 19. Jh. trieb die durch die Jahrhunderte bestehende Wertschätzung von Medizinalweinen jedoch einige Stilblüten. Bereits im 18. Jh. entwickelte der schottische Arzt John Brown eine Therapieform, die Brownianische Therapie, bei der Wein eine zentrale Rolle spielt. Er sollte das Gleichgewicht im Körper wiederherstellen und ihn stärken. Im 19. Jh. wurde daraus eine Kombinationstherapie, bei der der Patient mehrere Flaschen Wein, Champagner und Cognac innerhalb von 24 Stunden zu trinken hatte.
Bekannte Weine waren u. a. der Vin Mariani, ein mit Kokain versetzter Wein. Er war vorwiegend bei Künstlern beliebt, da er die Müdigkeit vertrieb. Ferner galten Portwein und Champagner als Heilmittel bei Erschöpfung.

Verkaufsverpackung einer Flasche Wein, die mit Kokain versetzt wurde, via Wikipedia
Anfang des 20. Jh. wurde auch dank der mittlerweile gut laufenden Werbeindustrie viel Missbrauch mit der Wirkung des Medizinalweins getrieben. Für jedes Leiden gab es einen passenden Wein. Dies führte dazu, dass 1912 durch einen preußischen Erlass die Bezeichnung Krankenwein für Weinprodukte nicht mehr verwendet werden durfte. Damit war der seit dem Mittelalter beliebte Werbespruch Frankenwein ist Krankenwein verboten. Der Erlass diente dem Verbraucherschutz und der Bekämpfung irreführender Gesundheitsversprechen.
Ende des 20. Jh. wurde die alte Tradition der Heilweine wieder verstärkt aufgenommen und insbesondere die Rezepte der Hildegard von Bingen werden wieder hergestellt und vertrieben. Allerdings nicht mehr so marktschreierisch wie in der Vergangenheit, sondern ist nun eher einem kleineren Kreis an Kräuter- und Gesundheitsinteressierten bekannt. Geblieben ist eine sanfte Unterstützung bei gesundheitlichen Problemen.

Fazit
Ein liebevoll hergestellter Medizinalwein vereint das Beste aus der Pflanzenheilkunde und der Kultur des Genießens. Er ist nicht nur ein wohlschmeckender Begleiter nach dem Essen, sondern auch ein sanftes Heilmittel, das Verdauung, Leber und Wohlbefinden auf natürliche Weise unterstützt. Durch die Kombination ausgewählter Kräuter mit hochwertigem Wein entsteht ein wirksames Tonikum, das seit Jahrhunderten in Klöstern, Apotheken und Hausrezepturen geschätzt wird. Kräuterwein ist leicht herzustellen und es gibt auch noch mal die Extraportion Freude, selbst angebaute oder gesammelte Kräuter in einem guten Wein anzusetzen.
Natürlich ist er nicht geeignet für Kinder, Schwangere, Stillende und bei verschiedenen Vorerkrankungen wie Leberleiden. Im Zweifelsfall lieber mit dem Arzt darüber sprechen, ob ein kleines Gläschen pro Tag in Ordnung ist. Und es gilt noch immer die bekannte Aussage von Paracelsus, dem bedeutenden Arzt und Universalgelehrten aus dem 16. Jh.:
Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift;
allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift sei.

Rezept für einen verdauungsfördernden Kräuterwein
- 1 TL Andornkraut
- 1 TL Engelwurz (Wurzel)
- 1 TL Pomeranzenschalen
- 1 TL Fenchelsamen
- 1 TL Melissenblätter
- 1 TL Schafgarbe
- 1 TL Pfefferminzblätter
- 1 l Wein
Die Kräuter grob zerkleinern und in ein großes Schraubglas geben. Mit Wein übergießen (siehe Empfehlung unten). 10–14 Tage an einem dunklen, kühlen Ort ziehen lassen, täglich schütteln. Abseihen, in dunkle Flaschen füllen, kühl lagern.
Haltbarkeit: ca. 6 Monate.
Einnahme: 1 Likörglas (ca. 20 ml) vor oder nach der Hauptmahlzeit.
Für Medizinalweine eignet sich ein guter, trockener Bio-Weißwein, der die Kräuteraromen nicht überdeckt, aber auch nicht zu sauer ist. Gut geeignet sind beispielsweise Grüner Veltliner, Silvaner, Gutedel und Pinot blanc.
Je nach Rezept und angestrebter Wirkung kann ein guter Rotwein ebenfalls eingesetzt werden.
Wohl bekomm’s!
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